Freilernen? Was ist das und wie kommt man auf sowas? Ungläubige Augen schauen mich an, wenn ich sage, dass unsere Kinder keine Schule besuchen. Hä? Wie geht das denn? Darf man das? Und überhaupt, wenn die kein Mathe können, wie sollen sie dann studieren? Diese und ähnliche Fragen diktieren den Gesprächsablauf. Nur wenige Menschen haben ein ernsthaftes Interesse an dem Warum zum Freilernen oder halten uns nicht direkt für religiös-motivierte Homeschooler. Der Rest steht sich selbst im Wege, um sich der darauf folgenden Antwort zu öffnen.
Ich spreche gerne über das Thema Freilernen, aber nicht mit jedem ungläubig dreinschauenden oder trollmäßig postenden Menschen in den sozialen Medien. Interessiert dich aber unser Warum tatsächlich, dann lies gerne weiter:
Was ist Freilernen aus unserer Sicht?
Kurz und knapp: Unter Freilernen verstehen wir selbstbestimmte und selbstorganisierte Bildung, die nicht von einer Institution wie z. B. der Schule ausgeht.
Bedeutet das, dass wir unsere Kids nun einfach vernachlässigen? Definitiv nicht. Das Gegenteil ist der Fall. Als Freilernerfamilie übernehmen wir die Verantwortung für die Bildung unserer Kinder und geben diese nicht ab in fremde Hände fremder Menschen. Wir sind tief involviert in alle Lernprozesse, die in unseren Kindern stattfinden und entwickeln ein immer tieferes Verständnis dafür, wie lernen bzw. leben funktioniert. Dabei lassen wir uns von unseren Kindern und ihrer intrinsischen Motivation leiten und lernen ihnen das Vertrauen zu schenken, das wir uns für uns selbst damals gewünscht hätten.
„Wenn man es genau nimmt, ist „Unschooling“ eigentlich nur ein schicker Begriff für „Leben“ oder „nicht-institutionalisiertes Aufwachsen“. – Grace Llewellyn, Guerilla Learning
Welche Gründe haben uns zum Freilernen geführt?
In unserem Fall ist die Entscheidung zum Freilernen eine Mischung aus einer für uns nicht von der Hand zu weisenden Kritik an der Institution Schule und einer Reihe Überlegungen, die u. a. möglich wurden durch sehr persönlichen Erfahrungen, die ich euch u.a. auch im Beitrag zum Thema Schulangst näher bringen möchte. Somit wurde Freilernen für uns die logische Konsequenz aus unserem Ziel, einen respektvollen Umgang miteinander zu pflegen und unsere Kinder nicht zu Menschen verbiegen zu lassen, die sie gar nicht sein wollen.
Unser Ziel für unsere Kinder, das wir wohl mit allen Eltern gemein haben (nämlich glückliche, sich selbst und andere liebende Menschen zu bleiben), möchten wir u. a. durchs Freilernen erreichen. Wir möchten ihr Interesse an unserer Welt, ihren Spieldrang, ihre Neugier, Kreativität und ihre Wissbegierde nicht ersticken, wie es der Schulbesuch tagtäglich bei vielen Kindern in Deutschland aus unserer Sicht tut und auch schon mit uns getan hat.
In starre Rahmen gequetscht und von morgens bis abends bewertet, wie schnell und gut sie sich Themengebiete aneignen, die sie zu dem Zeitpunkt gar nicht bearbeiten möchten, dabei die Beziehung zu unseren Kindern aufs Spiel setzend, wenn wir als verlängerter Arm der Lehrkraft wirken sollen, ist für uns keine erstrebenswerte Aussicht beim Verfolgen unserer Ziele.
Der erste Kontakt
Als “Neuschwangere” tauchte ich in eine komplett neue Welt für mich ein. Plötzlich ging es an jeder Ecke um Verantwortung und Entscheidungen. Frauenarzt oder Hebamme? Schmerzmittel unter der Geburt oder keines? Will ich meine Kinder impfen? Ab wann in den Kindergarten oder überhaupt nicht? Stillen oder Flasche? Tragen oder Schieben?
Viele dieser Fragen hätte ich mir wohl nie gestellt, wenn ich nicht in ein Umfeld hineingerutscht wäre, das sich genau diese stellte. Und so hörte die Fragerei nicht plötzlich auf, sondern brachte mich noch während meiner ersten Schwangerschaft zu der Frage, wie ich mir die Schulzeit meines noch ungeborenen Kindes vorstellte. Schule oder Freilernen? Homeschooling oder gar Unschooling? Freie Schule oder Regelschule?
Da ich selbst kaum positive Erinnerungen an die Schulzeit hatte, war mir schnell klar, dass ich mich nach Alternativen umsehen muss. Ziemlich schnell stieß ich dabei nun auf die Begriffe Unschooling und das in Deutschland gebräuchlichere Freilernen.
Ich realisierte mit der Schwangerschaft und Geburt unseres ersten Kindes, dass Kinder mit allem geboren werden, was sie benötigen. Es fängt schon damit an, dass sie wissen, wo sie saugen müssen und was sie zu tun haben, um an die Milch zu kommen. Sie beobachten und ahmen alles nach, was die Umgebung ihnen bietet. So lernen sie bald sitzen, laufen und sprechen – alles ohne besondere schulisch geprägte Unterstützung, Hilfsmittel oder Programme.
Mit 3,5 Jahren kannte sich meine Tochter besser mit Dinosauriern aus, als ich es jemals tat. Seither entwickelt sie von ganz alleine ein Interesse an Buchstaben und Zahlen, dem Schreiben, Lesen und Rechnen. Meine Aufgabe war und ist es nur, ihre Fragen zu beantworten und sie mit den Quellen vertraut zu machen, aus denen sie mehr erfahren kann. Alles andere bringt sie mit: Interesse, Lerneifer, Motivation.
Andere Zeiten – andere Wege
Um uns herum veränderte sich die Welt in einem Tempo, dem aus meiner Sicht kein Lehrplan einer Schule folgen kann. Die Lehr- und Lernmaterialien, die ich in den 1990ern bis 2000ern besaß, entstammten nicht selten den 1970ern und 1980ern. Wie kann ich meine Kinder auf eine Zukunft vorbereiten, die noch nie so vollkommen ungewiss war, wie sie es heute ist und das mit Lehrmaterialien und den dazugehörigen Denkweisen von gestern?
Was wir nutzen? Diese Materialien nutzen wir zum Freilernen!
Ich bin der Meinung, dass andere Zeiten auch andere Herangehensweisen bedürfen.
Für meine Kinder möchte ich Zeit. Zeit um sie auf die Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten. Hier sehe ich die Basis des Wissens nicht in auswendig Gelerntem, wieder vergessenen Fakten oder “Richtig oder Falsch” wie es in den meisten Schulen heutzutage noch immer selbstverständlich ist.
Als essentiell empfinde ich kritisches Hinterfragen aller Themen, selber Denken und nicht vorkauen lassen und natürlich das Bilden von Gemeinschaften, statt im Wettbewerb zueinander zu stehen. Auch unsere Erde, die Natur als Lebensgrundlage für uns alle, an erste Stelle zu setzen und vieles mehr darf hier nicht fehlen. Das alles kann keine Schule bieten und die Zeit ist uns zu kostbar, um sie an die heutigen Schulen zu verschwenden.
„Da wir nicht wissen können, welches Wissen in der Zukunft am meisten gebraucht wird, ist es sinnlos, zu versuchen, es im Voraus zu lehren. Stattdessen sollten wir versuchen, Menschen hervorzubringen, die das Lernen so sehr lieben und so gut lernen, dass sie in der Lage sein werden, alles zu lernen, was gelernt werden muss.“ – John Holt
Schulkritik – Bildung in Massenproduktion?
Uns allen bekannt: Produkte, die in Masse produziert werden, sind nicht nur fast alle gleich, ihnen fehlt es auch an Qualität.
Neben unserem obigen Überlegungen, die eher durch unsere Wünsche für unsere Kinder und durch unsere persönlichen Erfahrungen gespeist sind, gibt es natürlich auch noch die Betrachtung gegen die Institution Schule.
Auch wenn ich viel wichtiger finde zu wissen, wofür man ist, anstatt wogegen, ermöglicht ein genauer Blick auf die Schule als Institution womöglich dem einen oder anderen eine neue Betrachtungsweise, so dass sich das „Für“ weiter entwickeln kann. Einige Punkte sorgten auch bei uns noch nach vielen Jahren der Auseinandersetzung mit der Thematik Freilernen für „Ja klar, logisch!“-Effekte.
Die Schulkritik im Sinne des Deschooling (schaut mal bei uns zum Thema Deschooling als Prozess rein) oder heutzutage Unschooling bzw. Freilernens entwickelte sich recht zügig in der Nachkriegszeit und brachte so einige neue Sichtweisen im Zuge der 68er-Bewegung auch in die breitere Masse.
Neben heutigen bekannten Namen wie die Familie Stern (Arno, Bertrand und André Stern), John Taylor Gatto, sowie der Neurobiologe und Autor Gerald Hüther, haben John Holt, Paul Goodman, Ian Lister, Everett Reimer und Ivan Illich wichtige Werke für alle Interessierten zu bieten. Ian Lister fasst in „The Challenge of Deschooling“ in 31 Punkten seine Kritik zusammen. Einige davon sind die Folgenden (Hervorhebungen durch fett und kursiv stammen von mir):
- Schule verhindert Lernen, statt es zu fördern. Schulen sind weltfremd und machen die Welt nicht erfahrbar. Sie nehmen den Unterprivilegierten die Möglichkeit zur Kontrolle, ihr eigenes Lernen zu gestalten.
- Schulen verfehlen, das zu lehren, was sie zu lehren vorgeben.
- Die Fehler der Schule werden individualisiert und damit personalisiert; dabei liegt der Fehler im Schulsystem.
- Wenn die Schule versagt, vergrößert sie sich. (Der braucht etwas..!)
- Schule ist eine moderne Idee. In ihrer heutigen Form existiert sie seit dem 18. bzw. 19. Jahrhundert. Vielleicht ist die Schule nur eine Erscheinung in der Geschichte und verschwindet wieder in der Zukunft, wenn die Bedingungen sich verändern.
- Die Schule ist ein politischer Akteur. Sie wird explizit vom geschriebenen Lehrplan und implizit vom „heimlichen Lehrplan“ („hidden curriculum“) dazu benutzt, um politisch zu erziehen – jeweils im Sinne dessen, der gerade die Macht im Staate hat, als Beispiel hierzu dient häufig das Dritte Reich. Außerdem werden die Eliten dazu erzogen zu „führen“, während die Mehrheit dazu erzogen wird, geführt zu werden.
- Die Schule tritt als Lehrer für die Ökonomie auf. Die große Leistung im 19. Jahrhundert ist gewesen, die Menschen darauf vorzubereiten, die Leiden der harten, sich ständig wiederholenden Arbeit bis an ihr Lebensende zu ertragen. Die Schule erzieht zu Pünktlichkeit, Gehorsam, Fleiß, … (Protestantische Ethik)
- Die Lehrer sind konservativ.
- Die Kindheit ist eine neue Kreation.
- Das „Schulalter“ ist ein verrücktes Konzept.
- Paul Goodman und Ivan Illich verglichen Schulen, Gefängnisse, Hospitäler, Psychiatrien, Kasernen und die Kirche. Jede dieser Institutionen hat einen Aufseher, Vermittler und die Teilnahme ist Pflicht. Es besteht in jeder Institution ein Unterschied zwischen dem, was sie offiziell zu tun vorgeben, und dem, was die Mitarbeiter täglich verrichten. Was bringt die Schule in eine solch angreifbare Position? Schule wählt aus. Schulzeugnisse werden behandelt wie das Sakrament. Die Schule bietet ein Leben nach der Schule an – aber abhängig von der „Güte“ des Abschlusszeugnisses. Aber selbst ein Abschluss führt heute zur Akademikerarbeitslosigkeit. Die Versprechen der Schule sind falsch.
- Es ist eine Illusion zu glauben, dass das Gelernte ein Resultat von Lernen in der Schule ist. James Herdton schreibt: „Niemand lernt etwas in der Schule, aber Mittelklassekinder lernen genügend woanders und geben dann vor, dass die Schule ihnen etwas beigebracht hat.“
- Schule gibt vor zu lehren, wie man lernt, wie man mit Menschen umgeht (Toleranz) – aber nach Ivan Illich lehrt Schule hauptsächlich den heimlichen Lehrplan (hidden curriculum). Hilbert Meyer versteht unter hidden curriculum: Es geht „um die Einübung in hierarchisches Denken, in Leistungskonkurrenz und Normkonformität.“ Ivan Illich vergleicht in diesem Zusammenhang das heutige Schulsystem mit dem chinesischen Beamtenprüfungssystem. Dieses war über Jahrhunderte stabil. Hier wird Wissen als Tauschwert begriffen und nicht für eine Teilnahme der Individuen in seiner Kultur – Wissen als Gebrauchswert.
- Zertifikate werden wie ein Pass und eine Kreditkarte wahrgenommen.
- Weltweit haben die Schule bzw. die Schulbildung es nicht geschafft, die großen Ungleichheiten von Arm und Reich aufzuheben.
Die „reale Welt“, von der die Eltern befürchten, dass Freilerner sie nicht bewältigen können, ist nicht die „reale Welt“ der Zukunft, sondern eine, die darauf ausgelegt ist, gehorsame Arbeiter und Konsumenten hervorzubringen. Aber die Zeiten – und die Wirtschaft – ändern sich.“ – Wendy Priesnitz
Wollen wir wirklich diese Produktion an Arbeitern en masse auf Kosten der Leben und des Glücks unserer eigenen Kinder?
Unsere Kinder sollen die Wahl haben sich so zu bilden, wie sie es wünschen und so bleiben sie die Freilerner, als die sie geboren wurden bis sie sich anders entscheiden.
Ich wette, es schwirren jetzt ganz viele Fragen im Kopf umher, die dringend beantwortet werden wollen. Hüpf mal rüber in das große FAQ Unschooling / Freilernen, wo wir die gängigsten Fragen beantworten. Deine Frage ist nicht dabei? Schreib sie in die Kommentare!
Freilernen und Homeschooling bei anderen Familien?
„Also bei uns gilt das Motto spielen ist lernen. Spezielle Dinge wie Buchstaben, malen, schreiben, lesen, basteln etc. machen wir bei Interesse des Kindes.“
– Lisa & Eugen
„Ich lege Wert darauf, dass die Kinder Basics wie Deutsch und Mathe lernen, zwinge sie hierbei jedoch zu nichts. Stattdessen hat es bisher sehr gut funktioniert und auch völlig ausgereicht, die Zeitfenster zu nutzen, in denen die Kinder ein natürliches Interesse an den Themen gezeigt haben. Auch spielerisch, indem sie zum Beispiel selbstgemachte Limonade verkauft haben, ergeben sich immer wieder schöne Gelegenheiten zum Üben – vom Schreiben des Preisschildes über die Kalkulation des Verkaufspreises bis hin zum gerechten Aufteilen des Gewinns unter allen Beteiligten.“
– Anna
Wow. Das Alles zu lesen gibt mir neuen Mut den Schritt zu wagen. Vielen Dank
Das freut mich total! 😀
Was meint ihr, bis zu welchem Alter das gut funktioniert? Für „Grundschulkinder“ ist meiner Meinung nach das Montesori Motto: hilf mir es selbst zu tun, die einzig richtige Lernweise.
Das „funktioniert“ in jedem Alter, weil es einfach das Leben ist. Es ist keine Methode oder Strategie, die nur bestimmte Altersgruppen betrifft.
Ich stimme zu, dass die hier aufgeführten Risikien und Praktiken der Schule durchaus real sind. Das niemand was in der Schule lernt, ist natürlich kompletter Humbug.
Ich bin sehr daran interessiert, meine Kinder frei groß werden zu lassen, und sehe unschooling dabei als sehr wertvoll.
Gleichzeitig bin ich Freund eines zu Hause unterrichteten Jungen, der absolut keine Ahnung von sehr grundlegenden Geschichtsereignissen oder prinzipiellen logischen Konzepten hat.
Das ist natürlich auch in Schulen teilweise so, doch es ist in seinem Fall schon sehr genau zu sehen, das er einfach logische und informelle „Lücken“ in seinem Weltbild aufweist.
Für mich ist das eine Folge davon, dass er rein von seiner Mutter unterrichtet worden ist.
Eine Community, ein Dorf mit vielen verschiedenen Personen, oder vielleicht ein Leben auf Reise ist für mich Grundvorraussetzung für freies Lernen.
Hallo Matthias,
ich stimme dir natürlich zu, dass man auch in Schulen etwas lernen kann. Tatsächlich geht es uns aber um die Art und Weise des Lernens, wie nachhaltig dieses Lernen ist und wie das menschliche Gehirn lernt. Ganz genau auch darum, was lernen eigentlich ist. Und an dieser Stelle versagt die Schule. Zum Lernen ist eben keine Schule notwendig. Schaden kann sie trotzdem so ganz nebenbei anrichten.
Du beschreibst eine Situation aus einer anderen Familie, in der offensichtlich Homeschooling (jedoch nicht das von dir vorher erwähnte Unschooling, um das es in diesem Artikel ja geht) praktiziert wird und empfindest den Kenntnisstand des Jungen als nicht ausreichend (So zumindest meine Interpretation des Textes. Berichtige mich gerne.).
Dazu kann ich natürlich von hier nichts sagen, möchte aber anmerken, dass die Leistungen des Jungen an dieser Stelle bewertet werden und gerade Bewertung möchten wir ablegen bei unseren freilernenden Kindern.
Wie schnell und wie viel Menschen in welchem Zeitfenster lernen (sich erspielen), ist individuell und sollte nicht von einem äußerlichen Rahmen (z.B.“In dem Alter sollte er schon xyz wissen/können.“) begrenzt werden. Der Junge könnte zudem auch Kenntnisse oder Fähigkeiten bei einem Thema in einem Ausmaß besitzen, das du vielleicht nicht für notwendig hältst ;). Er wird genau das lernen und logisch begreifen, wenn für ihn und sein Leben von Wichtigkeit ist.
Die letzten zwei Jahre (20-22) haben viele Familien in Isolation gelebt und es wurde Kindern und ihren Familien erheblich erschwert sich mit anderen Menschen auseinanderzusetzen. Diese Versäumnis sehen wir jetzt überall in der Gesellschaft in Bezug auf u.a. Entwicklung, Gesundheit und den mentalen Zustand der Menschen. Wir hoffen, dass sich dies noch für die vielen Menschen abwenden lässt.